Darmflora

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Das humane Mikrobiom - vom Mystizismus zur Wissenschaft

Dr. rer. nat. Volker Rusch - Institut für Integrative Biologie, Alte Universität Herborn

„Mia san mia“ definieren sich die Bayern gerne. Doch stimmt das wirklich? Sind wir nicht eigentlich viel mehr Bakterien als Mensch? Was lange Zeit als Mystizismus abgetan wurde, hat nun einen fest etablierten Platz in der Wissenschaft gefunden: Die Bedeutung der Bakterien für die Gesundheit des Menschen. Vieles muss noch erforscht werden. Doch eins ist heute schon klar: Die winzigen Mitbewohner des Menschen bergen ein enormes Potential für Diagnostik und Therapie.

„Das Mikrobiom ist ein Universum der eigenen Art!“ Mit diesen Worten eröffnete Dr. Volker Rusch seinen Vortrag auf der Fachtagung für Mikroökologie.

Über die besondere Bedeutung der zahlreichen Mikroben, die den Menschen besiedeln, seien sich nicht immer alle einig gewesen. So soll der Pathologe Rudolf Virchow einst zu Robert Koch - dem Begründer der modernen Bakteriologie und Mikrobiologie - gesagt haben: „Wahrscheinlich ist die Bakteriologie in zwei Jahren erledigt.“ Durch solche und andere Aussagen seien Paralleluniversen entstanden, in denen namhafte Professoren von Magie und Mystizismus sprachen, wenn es um Bakterien ging, erklärte Rusch. Und das nicht nur in grauer Vorzeit. So äußerte der Gastroenterologe Max Otto Bruker noch im Jahr 1997: „Der normale Darm beherbergt keine Bakterien. Finden sich Bakterien im Darm, so ist der Mensch krank.“

Der Mensch als Lebensgemeinschaft

Der Mensch ist ein Holobiont - eine Gemeinschaft verschiedener Lebewesen, die sich zum gegenseitigen Vorteil zu einem größeren Organismus zusammengeschlossen haben. Er besteht aus etwa 1012 Körperzellen, besiedelt ist er jedoch mit 10- bis 100-mal mehr Mikroorganismen. „Im Grunde sind wir viel mehr Bakterium als Mensch“, so Rusch. Über die genaue Anzahl der verschiedenen Bakterienarten sei sich die Fachwelt noch nicht einig. Das Humane Microbiome Project des Nationalen Gesundheitsinstituts der USA ermittelte im Jahr 2013 mehr als 10.000 verschiedene Bakterienarten, die den Menschen besiedeln. Die Bakterien verfügen über 30.000 individuelle Genome. Der Mensch hat dagegen nur ein einziges.

Mikrobiom variabel, Metabolom aber ähnlich

Das Humane Microbiome Project brachte einen weiteren interessanten Aspekt zutage. Die Anteile der bakteriellen Arten, die einen Menschen besiedeln, sind von Mensch zu Mensch unterschiedlich. Ihre Stoffwechselleistungen sind aber insgesamt ähnlich. Oder anders ausgedrückt: Das Mikrobiom des Menschen ist äußerst variabel - das Metabolom ist dagegen nahezu gleich.

Leben wie die Rolling Stones

Sex, Drugs and Rock`n Roll: Die Zusammenfassung eines Rockerlebens passe auch gut auf die Bakterien, berichtete Rusch. „Die lustige Mikrobengemeinschaft lebt in Saus und Braus. Sie tauscht Gene aus – das ist Sex. Sie baut Arzneimittel ab – das ist Drogenkonsum und sie kommuniziert miteinander – ob dabei auch Rock `n Roll im Spiel ist, wird sich zeigen!“

Sie sind überall

Bakterien sind fast allgegenwärtig. Selbst an Stellen, die bis vor wenigen Jahren noch als steril galten, finden Wissenschaftler Bakterien. 2013 konnten Forscher zeigen: Bakterien der Mutter kolonisieren bereits im Mutterleib den Darm des ungeborenen Kindes.1 Entgegen des Paradigmas “steriler Uterus“ finden sich Bakterien in Nabelschnurblut, Fruchtwasser, fötalen Schleimhäuten und im Mekonium gesunder, reifer Neugeborener. E. coli, Enterococcus-Arten und Milchsäurebakterien dominieren die Mikrobiota des Mekoniums. Sie gelangen aus der Vagina und auf dem Blutweg aus dem Gastrointestinaltrakt und der Mundhöhle der Mutter in den Uterus.2

„Viele Jahrzehnte lang galt auch die Muttermilch als steril. Tatsächlich aber ist sie eine cremige bakterielle Suppe, in der über 700 verschiedene Bakterienarten leben“, so Rusch. Mütter bombardierten ihre Kinder regelrecht mit ihren Mikroben.3

Darm und Hirn sind eng miteinander verbunden

Seit einiger Zeit sei auch bekannt, dass Erkrankungen des Gehirns in direktem Zusammenhang mit der mikrobiellen Besiedlung des Darms stehen. Rusch dazu: „So werden beispielsweise die Reifung und Funktion von Mikroglia im zentralen Nervensystem ständig von den Mikrobiota kontrolliert.“4 Die Pressestelle der Universität Freiburg betitelte die Entdeckung mit den Worten: „Darmbakterien sorgen für ein gesundes Gehirn“.

„Vielleicht werden wir bald das Mikrobiom des Gehirns entdecken?“, fragte Rusch verschmitzt in die Runde, und weiter: „Darüber würde sich Curt Götz freuen, der in seiner köstlichen Geschichte von der “Mikrobe der menschlichen Dummheit“ spricht. Wenn wir die Mikrobe finden, dann hätten wir auf einmal Frieden auf der Welt.“

Rusch ist sich sicher: Die immer intensivere wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema werde dazu beitragen, die Zusammenhänge zwischen bakterieller Besiedlung und Gehirnfunktionen besser zu verstehen. Die Ampeln stünden dafür auf grün: 2016 kündigte das Weiße Haus den Start einer “Nationalen Mikrobiom Initiative“ an. Die Initiative unterstützt Wissenschaftler, die die bakterielle Besiedlung von Menschen, von Pflanzen und anderen Ökosystemen untersuchen - sofern der neue Präsident keinen Strich durch die Rechnung mache.

Die Darm-Hirn-Achse

Der Vagus-Nerv stellt die Verbindung zwischen Darm und Hirn her. Über ihn wandern Signale in beide Richtungen. „Messungen bestätigen, dass die Mikroorganismen im Darm Signale an das enterische Nervensystem senden5“, so Rusch. Im Jahr 2013 widmete sich auch der “Spiegel“ diesem Thema: „Seelenheil aus dem Gekröse“ lautete der Titel. Der Autor Jörg Blech warf die Frage auf: Sind Bakterien ein Mittel gegen psychische Störungen?

In der Wissenschaft rücken Mikroben und ihre Bedeutung für die menschliche Gesundheit immer weiter in den Fokus. Doch wie sieht es in der ärztlichen Praxis aus?

Wissenschaft und Praxis

Auf dem “Gut World Summit“ im Jahr 2014 in Miami formulierte ein teilnehmender Arzt treffend: „Was wir brauchen sind Ratschläge für die Praxis! Wissenschaft und Theorie sind fantastisch und unabdingbar – aber wir sind mit Patienten konfrontiert. Was sollen wir Ihnen raten?“ Moderator Mark Porter griff das Anliegen des Arztes unmittelbar auf und fragte in die Runde: „Wer unter den Konferenzteilnehmern verabreicht Probiotika bei einer Antibiotika Einnahme?“ Von 250 Teilnehmern hoben 12 ihre Hand – das entspricht 4,8 Prozent. Porter bezeichnete dieses Ergebnis als eine “Challenge“ – eine Herausforderung.

Unterschiedliche Sichtweisen am Beispiel des Reizdarmsyndroms

Je nach medizinischer Fachrichtung kann sich die Sicht auf eine Erkrankung  beträchtlich unterscheiden. Das veranschaulichte Rusch am Beispiel des Reizdarmsyndroms, unter dem bis zu 20 Prozent der erwachsenen Bevölkerung in Deutschland leiden. „Für den Gastroenterologen ist das Reizdarmsyndrom ein Durcheinander im Darm, der Psychiater sagt, das hat etwas mit Stress zu tun. Der Neurologe sagt: Das ist chronischer Schmerz. In Wirklichkeit aber ist die Darm-Hirn-Achse gestört.“ Dazu gehöre auch die Mikroflora des Darms. Dass das Gehirn am Reizdarmsyndrom beteiligt ist, zeigt auch der Vergleich von Hirnscans gesunder Menschen und von Menschen mit Reizdarmsyndrom: die Aktivität verschiedener Hirnregionen unterschied sich in den beiden Gruppen deutlich.

Bakterien als Heilmittel

Das Reizdarmsyndrom ist ein Beispiel für Erkrankungen, bei denen die Patienten von der Einnahme natürlicher Darmbakterien profitieren. Rusch zeigte eine kurze Zusammenfassung der verschiedenen  Krankheitsbilder. E. coli verringerte beispielsweise Bauchschmerzen bei Reizdarmpatienten, Enterokokken konnten die klinischen Parameter bei Patienten mit Infektionen der oberen Luftwege signifikant verbessern und das Immunsystem anregen.

Bakterienlysat zur Allergieprävention

Auch mit abgetöteten Bakterien lassen sich immunmodulatorische Effekte erzielen. Die größte Studie6 mit inaktivierten Bakterien fand an der Charité Klinik für Pädiatrie, Campus Virchow-Klinikum, unter Beteiligung der SymbioPharm GmbH statt. In der randomisierten, placebokontrollierten Doppelblindstudie erhielten 606 gesunde Säuglinge mit familiär erhöhtem Atopierisiko vom 2. bis zum 7. Lebensmonat dreimal täglich das Bakterienlysat ProSymbioflor. Die Kinder wurden von Geburt an bis zum Ende des 3. Lebensjahres beobachtet. Je nach Vorbelastung der Eltern waren die Ergebnisse unterschiedlich. Besonders deutlich zeigte sich der präventive Effekt des Bakterienlysats bei Kindern mit einem allergisch vorbelasteten Vater.

Tumorbekämpfung

Die Liste positiver Gesundheitseffekte von Bakterien ließe sich noch durch zahlreiche Aspekte ergänzen. „Auch bei Tumoren könnten Bakterien in Zukunft eine Rolle spielen“, riss Rusch kurz ein weiteres, umfassendes Thema an.

Doch die Zeit des Vortrages war begrenzt und so schloss der Mikrobiologe den Vortrag mit seiner großen Leidenschaft - den Blumen. Eine von ihm angestoßene Studie hatte gezeigt: Auch Blütenpollen besitzen ein Mikrobiom.7 In Birkenpollen beispielsweise fanden die Wissenschaftler 106 bis 109 Mikroben pro Gramm. „Das ist unheimlich viel. Aber kein Allergologe hat sich bisher Gedanken darüber gemacht, ob dieses Pollenmikrobiom vielleicht bei der Entstehung von Pollen-Allergien eine Rolle spielt“, so Rusch.

Mikrobiom birgt unglaubliches Potential

Immer mehr Wissenschaftler erforschen die mikrobielle Besiedlung des Menschen und ihre Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit. Rusch dazu: „Das ist wichtig und gut und wird auch den Ärzten in der Praxis nutzen. Denn Erkenntnisse über das Mikrobiom als Teil eines komplexen Holobiont-Ökosystems eröffnen vollkommen neue Ansätze in der Heilkunde und Diagnostik und verheißen ein unglaubliches Potential.“

Literatur:

  1. Gosalbes, M.J. et al. Meconium microbiota types dominated by lactic acid or enteric bacteria are differentially associated with maternal eczema and respiratory problems in infants. Clin Exp Allergy. 2013 Feb;43(2):198-211. doi: 10.1111/cea.12063.
  2. Funkhouser, L.J. and Bordenstein, S. R. Mom knows best: the universality of maternal microbial transmission. PLoS Biol. 2013;11(8):e1001631. doi: 10.1371/journal.pbio.1001631.
  3. Aagaard, K. et al. The Placenta Harbors a Unique Microbiome. Sci Transl Med. 2014 May 21; 6(237): 237ra65. doi: 10.1126/scitranslmed.3008599.
  4. Erny, D. et al. Host microbiota constantly control maturation and function of microglia in the CNS. Nat Neurosci. 2015 Jul;18(7):965-77. doi: 10.1038/nn.4030.
  5. Forsythe, P. and Kunze, W.A. Voices from within: gut microbes and the CNS. Cell Mol Life Sci. 2013 Jan;70(1):55-69. doi: 10.1007/s00018-012-1028-z.
  6. Lau, S. et al. Oral application of bacterial lysate in infancy decreases the risk of atopic dermatitis in children with 1 atopic parent in a randomized, placebo-controlled trial. J Allergy Clin Immunol. 2012 Apr;129(4):1040-7. doi: 10.1016/j.jaci.2012.02.005.
  7. Zasloff, M. Pollen has a microbiome: implications for plant reproduction, insect pollination and human allergies. Environ Microbiol. 2017 Jan;19(1):1-2. doi: 10.1111/1462-2920.13661.

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