Darmflora

INFO

Mikrobiom-Diagnostik zwischen Wissenschaft und Praxis

PD Dr. rer. nat. Andreas Schwiertz - Institut für Ernährungswissenschaft, Universität Gießen
Institut für Mikroökologie, Herborn

 

In den letzten Jahren hat die Mikrobiomforschung enorme Fortschritte erzielt. Doch wie lassen sich die wissenschaftlichen Ergebnisse in die Praxis umsetzen? Dr. Andreas Schwiertz fasste in seinem Vortrag auf der Fachtagung für Mikroökologie grundlegende Erkenntnisse der letzten Jahre zusammen und zeigte Möglichkeiten der praktischen Anwendung für Ärzte auf.

Eine zentrale Frage in der Mikrobiom-Forschung lautet: Wie ist ein normales Mikrobiom definiert? Und gibt es ethnische oder regionale Unterschiede in der Zusammensetzung eines normalen Mikrobioms?

Diversität im Darm bei unterschiedlichen ethnischen Gruppen

Um die Fragen zu klären, haben Wissenschaftler die Bakterien in Stuhlroben von Bauern aus dem afrikanischen Malawi mit denen von ursprünglich lebenden Indianern aus Venezuela und städtisch lebenden US-Amerikanern verglichen. Das Ergebnis der Studie1: „In den ersten beiden Lebensjahren ist die Diversität der Bakterien ungefähr gleich“, berichtete Schwiertz. Ab etwa zwei Jahren lassen sich erste Unterschiede in der Diversität der Bakterienzusammensetzung feststellen. Mit zunehmendem Alter zeigte sich: Bei den Indianern aus dem Amazonasgebiet blieb die hohe Diversität bis ins Alter erhalten. An zweiter Stelle standen die Menschen aus dem ländlichen Malawi, während die US-Amerikaner das Schlusslicht dieses Vergleichs bildeten.

Das Schweizer Messer im Darm

„Ich vergleiche das Ergebnis gerne mit einem Schweizer Messer“, veranschaulichte Schwiertz. „Während die Amazonas-Indianer in ihrem Darm viele verschiedene Messer und Sägen zur Verfügung haben, beschränkt sich das Werkzeugrepertoire der städtischen US-Amerikaner auf ein bis zwei Messer.“

Doch warum ist das so? Warum hat die eine Bevölkerungsgruppe eine wesentlich vielfältigere Darmflora als die andere? „Wer sich westlich ernährt, isst mehr oder weniger jeden Tag das Gleiche“, beantwortete Andreas Schwiertz seine Frage. „Für die Bakterien im Darm macht es keinen Unterschied, ob wir Reis, Kartoffeln oder Nudeln essen.“ Die westliche Ernährung vernachlässigt die Ballaststoffe, die für eine bakterielle Vielfalt wichtig sind: „Die Bakterienvielfalt nimmt ab, weil wir die Bakterien nicht abwechslungsreich genug füttern.“

Die Amazonas-Indianer hingegen seien bei ihrer Ernährung auf Jagderfolge oder das Finden von essbaren Pflanzen angewiesen. „Das bakterielle „Schweizer Taschenmesser“ und damit die bakteriellen Stoffwechselfähigkeiten müssen bei diesen Menschen wesentlich umfangreicher sein als bei einem US-Amerikaner“, so Schwiertz.

Mikrobiom bei Veganern, Vegetariern und „Allroundern“

Doch wie prägt die Ernährungsweise eines westlich zivilisierten Menschen sein Darmmikrobiom? Schwiertz und Kollegen vom Institut für Mikroökologie in Herborn haben untersucht, ob und wenn ja wie sich die Zusammensetzung des Darm-Mikrobioms je nach Ernährungsstil unterscheidet.2 Dabei verglichen sie Stuhlproben von Veganern, Vegetariern und „Allroundern“ – Biologen sprechen bei letzteren von Omnivoren.

Das Ergebnis: „Wenn Sie die großen Bakteriengruppen betrachten, sehen Sie keine nennenswerten Unterschiede“, berichtete Schwiertz, und weiter: „Schaut man sich jedoch das Vorkommen verschiedener Bakterien im Verlauf mehrerer Tage an, sieht das Muster bei einem Veganer deutlich bunter aus als bei einem Omnivor.“ Das läge an der insgesamt abwechslungsreicheren Kost eines Veganers gegenüber einem Omnivor, erklärte Schwiertz. Die großen Unterschiede in der bakteriellen Darmbesiedlung rührten von den unterschiedlichen Ballaststoffen her.

Ein weiterer interessanter Aspekt, den die Studie zutage brachte: Veganer haben keine Laktobazillen im Stuhl. „Das Phänomen ist einfach zu erklären“, so Schwiertz, „da Veganer keine Milchprodukte zu sich nehmen, fehlt den Milchsäurebakterien die Nahrungsgrundlage.“

Übergewicht durch Darmbakterien?

Schwiertz präsentierte Daten des National Health Institutes aus den USA von 1985 bis 2006, die zeigen: Die Menschen in Nordamerika werden immer dicker. Vor zehn Jahren war bereits jeder dritte bis vierte Mensch in den USA adipös, was einem Body Mass Index (BMI) von über 30 entspricht. Auch global betrachtet setzt sich der Trend fort.

Seit 2010 ist Adipositas auch in Deutschland, Finnland und Großbritannien auf dem Vormarsch. Das Land mit der dicksten Bevölkerung ist Mexiko. „Mexiko hat das Problem erkannt und als erstes Land der Welt eine Zuckersteuer eingeführt“, so Schwiertz. Mit positiver Bilanz: „Der durchschnittliche BMI ist nach der Einführung der Steuer gesunken.“

Ein Grund zur Einführung der Zuckersteuer war: Eine stark übergewichtige Bevölkerung verursacht hohe Gesundheitskosten. Denn Adipositas bleibt meist nicht ohne Folgen. Oft zieht extremes Übergewicht kardiovaskuläre, pulmonale, gastrointestinale und muskuloskelettale Probleme nach sich. Auch Hormonprobleme, Niereninsuffizienz und psychosoziale Probleme sind bei Adipositas häufig.

Warum werden Menschen dick?

Die Gründe für massives Übergewicht sind vielfältig. „Wer mehr Kalorien aufnimmt, als er verbrauchen kann, nimmt zu“, so Schwiertz. Allerdings beeinflussen weitere Faktoren wie Genetik, hormonelle Dysbalancen, Medikation, Umwelt und nach neusten Erkenntnissen auch die Mikrobiota des Betroffenen die einfache Energiebilanz.

In einer Studie3 hatten Wissenschaftler keimfreien und normal besiedelten Mäusen über acht Wochen von Geburt an exakt das gleiche Futter verabreicht. Bereits nach einer Woche hatten die mikrobiell besiedelten Tiere deutlich mehr Gewicht zugenommen als die sterilen Mäuse. „Die logische Schlussfolgerung lautete: Die Bakterien müssen an der Gewichtszunahme beteiligt sind, denn alle anderen Parameter waren unverändert“, so Schwiertz.

Die Firmicutes/Bacteroidetes-Ratio

In einem nächsten Schritt4 untersuchten Wissenschaftler die bakterielle Besiedlung von adipösen und normalgewichtigen Mäusen. Das Ergebnis: Sie fanden eine Korrelation zwischen dem BMI und der Firmicutes/Bacteroidetes-Ratio – also dem Verhältnis, in dem die beiden großen Bakterienstämme im Darm vorkommen. „Die Entdeckung wurde dann häufig so interpretiert, dass massives Übergewicht nicht auf ein Fehlverhalten zurückzuführen ist, sondern auf eine ungünstige Bakterienbesiedlung im Darm“, so Schwiertz.

Umso größer war die Ernüchterung, als die erste Metastudie dazu zeigte: Eine Korrelation zwischen der Firmicutes/Bacteroidetes-Ratio und Adipositas gibt es auf humaner Ebene nicht. „Bei genauerer Betrachtung der ursprünglichen Studien an Mäusen fiel außerdem auf, dass die Korrelation nur bei einem bestimmten Maustyp zutrifft. Bei anderen Mäusen war der Effekt nicht nachweisbar“, berichtete Schwiertz.

Auf die Stoffwechselprodukte kommt es an

Auch Schwiertz und seine Kollegen haben eine Studie zum Zusammenhang zwischen der bakteriellen Besiedlung und Übergewicht vorgenommen. „Wir konnten an 30 Adipösen, 30 Übergewichtigen und 30 Normalgewichtigen zeigen, dass es einen Zusammenhang zwischen den Bakterien im Darm und Adipositas gibt.5 Das Verhältnis der Bakterien zueinander hat darauf jedoch keinen Einfluss. Viel mehr kommt es darauf an, welche Stoffe die Bakterien produzieren“, erklärte Schwiertz.

Doch welche Signale und Stoffe spielen bei Adipositas eine Rolle? Was der Mensch mit seiner eigenen enzymatischen Ausstattung nicht verstoffwechseln kann, erledigen die Bakterien im Darm für ihn. Dabei entstehen unter anderem Fettsäuren. „Die Fettsäuren können dem Menschen etwa 300 Kilokalorien zusätzlich zur Verfügung stellen – das entspricht etwa einem großen Schokoriegel pro Tag“, so Schwiertz. „Wir konnten bei unseren Probanden zeigen, dass die Menge an kurzkettigen Fettsäuren von den Dünnen über die Normalgewichtigen zu den Adipösen signifikant zugenommen hat.“

Ernährung beeinflusst den Stoffwechsel der Darmbakterien

Über die Ernährung lässt sich beeinflussen, welche Stoffe die Darmbakterien produzieren. Aus Ballaststoffen stellen die Bakterien nicht mehr die einfachen kurzkettigen Fettsäuren wie die Essigsäure her, sondern die etwas komplizierteren. Und die wirken sich vorteilhaft auf das Körpergewicht aus“, erklärte Schwiertz. Wichtig sei in dem Zusammenhang nicht in erster Linie, welche Bakterien den Darm besiedeln, sondern über welche Stoffwechselleistungen die Bakterien verfügen.

Schlüsselarten stützen das Ökosystem im Darm

Eine Sonderstellung haben allerdings bestimmte bakterielle Schlüsselarten. „Eine Schlüsselart legt fest, ob das ganze System funktioniert oder nicht – ähnlich des Schlüsselsteins in einem Torbogen“, so Schwiertz.

Nur mit dem richtigen Schlüsselstein hält der Torbogen. So gibt es auch für Ökosysteme bestimmte Schlüsselarten, die das Zusammenleben der anderen Arten im System erst ermöglichen.

Die mukonutritiven Bakterien gehören zu den Schlüsselarten, denn sie unterstützen die ständige Erneuerung der schützenden Mukusschicht im Darm. Direkt auf den Epithelzellen des Darms liegt eine Schicht Mukus, die praktisch frei von Bakterien ist. Daran schließt sich der äußere Mukus an, der einigen Bakterienarten eine gute Lebensgrundlage bietet. Die Bakterien der äußeren Mukusschicht sind für eine intakte innere Mukusschicht mitverantwortlich. „Die Schlüsselorganismen in diesem System sorgen zum einen dafür, dass der Mukus kontinuierlich abgebaut wird und so die Epithelzellen zum Nachbilden des Mukus angeregt werden. Andererseits versorgen die Bakterien die Epithelzellen mit Energie, damit sie überhaupt in der Lage sind, Mukus zu bilden“, erklärte Schwiertz. Das erreichen die Bakterien über die von ihnen gebildete Buttersäure. Eine intakte Mukusschicht ist wichtig, damit pathogene Erreger nicht bis zu den Epithelzellen des Darms vordringen und eine Infektion auslösen können.

Ohne Schlüsselorganismen geht im Darm nichts

Bestimmte Schlüsselorganismen benötigt der Körper auch für die Verdauung. „Wenn Sie etwas essen, können das bei weitem nicht alle Ihre Bakterien nutzen“, so Schwiertz. Ballaststoffe sind ein Beispiel dafür. Das Bakterium Bifidobacterium adolescentis wirkt hier als Schlüsselorganismus. „Denn er schließt die Ballaststoffe für andere Mikroorganismen auf, er macht sie quasi mundgerecht“, veranschaulichte Schwiertz.

LPS-tragende Bakterien fördern einen „leaky gut“

Aber zurück zum Übergewichtsproblem: „Natürlich spielt die Ernährung eine wichtige Rolle“, so Schwiertz. Eine fett- und kohlenhydratreiche Ernährung fördert Adipositas und kann eine Dysbiose – eine ungünstige Veränderung der Bakteriengemeinschaft – hervorrufen. Dann überwiegen die Lipopolysaccharid (LPS)-tragenden Bakterien. Gelangen die Bakterien über eine durchlässige Darmwand („leaky gut“) in die Blutbahn, reagiert der Körper mit einer Entzündung. „Selbst wenn die Entzündung nur subklinisch ist, hat sie Auswirkungen auf den Stoffwechsel“, so Schwiertz.

Der KyberMetabolic-Test

Das Institut für Mikroökologie in Herborn hat nun ein Diagnostik-Verfahren entwickelt, mit dem sich die bakterielle Stoffwechselleistung bei übergewichtigen oder bereits adipösen Patienten beurteilen lässt. Mit der neuen KyberMetabolic-Diagnostik bekommen Therapeuten eine Übersicht über die wesentlichen Mikrobiota-assoziierten Parameter, die zu einem Metabolischen Syndrom führen oder bei Patienten mit einem manifesten Metabolischen Syndrom die Stoffwechsellage verschlimmern können.

„Wir erfassen dabei die Schlüsselorganismen“, erklärte Schwiertz. Wichtig sei außerdem, welche kurzkettigen Fettsäuren die Bakterien produzieren. „Ist beispielsweise die Essigsäure erhöht, steigert das den Appetit. Propionsäure hingegen bewirkt genau das Gegenteil – sie führt zu einer Sättigung. Die KyberMetabolic-Diagnostik haben wir aus den wissenschaftlichen Erkenntnisse der letzten Jahre entwickelt.“ Die Diagnostik konzentriere sich auf die Parameter, die bei Adipositas eine Rolle spielen.

Kaum kurzkettige Fettsäuren bei Parkinson-Patienten

Schlüsselbakterien und bakterielle Signalmoleküle spielen nicht nur bei Adipositas, sondern auch bei Parkinson eine Rolle.6 In einer Studie haben Schwiertz und Kollegen Parkinson-Patienten mit gleichaltrigen und jungen, gesunden Probanden verglichen. Dabei zeigte sich: Parkinson-Patienten hatten deutlich weniger Faecalibakterien in ihren Stuhlproben als Gesunde.

 „Was aber weitaus interessanter war als die Zusammensetzung des Mikrobioms waren die Stoffwechselmetabolite der Parkinson-Patienten“, berichtete Schwiertz, und weiter: „Alle kurzkettigen Fettsäuren waren bei den Patienten signifikant vermindert. Dazu muss man wissen, dass alle Parkinson-Patienten unter chronischer Obstipation leiden.“

Und genau hier schließt sich der Kreis, denn für die Darmperistaltik sind die kurzkettigen Fettsäuren mitverantwortlich. Messungen des fäkalen Entzündungsmarkers Calprotectin zeigten: bei Parkinson-Patienten ist der Darm entzündet. Auch der „leaky gut“-Marker Zonulin war bei den Patienten signifikant erhöht - genauso wie die Entzündungsmarker α-1-Antitrypsin und Lactoferrin. Lactoferrin erlaubt den Rückschluss auf eine bakterielle Ursache der Entzündung. „Parkinson-Patienten haben also eine gestörte Darmbarriere, an der auch die Mikrobiota beteiligt ist“, schlussfolgerte Schwiertz und weiter: „Und daraus ergibt sich auch ein therapeutischer Ansatz. Denn über die Behandlung der Darmentzündung und der Obstipation lassen sich möglicherweise auch die anderen Parkinson-typischen Symptome lindern.“

Die Verbindung zwischen Darm und Hirn hatte zunächst überrascht, ist aber gut untersucht und anerkannt. Wissenschaftler sprechen von der Darm-Hirn-Achse. „Wenn Sie ein Problem im Darm haben, wird sich das kurze Zeit später auch im Gehirn bemerkbar machen – und umgekehrt“, so Schwiertz. Bestens bekannt sei die Verknüpfung beispielsweise in Zuständen von großer Nervosität, die nicht selten von häufigen Toilettengängen begleitet sind.

Schlüsselbakterien und Stoffwechselprodukte sind richtungsweisend

Die Beispiele veranschaulichen: Analysen der Mikrobiota erlauben eine neue, ursachenbezogene Herangehensweise bei verschiedenen Krankheitsbildern.
Schwiertz dazu: „Wichtig ist dabei vor allem: Welche Schlüsselorganismen sind da und welche Stoffwechselprodukte stellen die Bakterien her? Denn an dieser Stelle lässt sich bereits heute therapeutisch eingreifen.“


Die Funktion der Darmbakterien erklärt Frau Dr. Kerstin Rusch in Ihrem Bericht aus der medizinischen Praxis.

Literatur:

  1. Yatsunenko, T. et al. Human gut microbiome viewed across age and geography. Nature. 2012 May 9;486(7402):222-7. doi: 10.1038/nature11053.
  2. Reiss, A. et al. Association of dietary type with fecal microbiota and short chain fatty acids in vegans and omnivores. Journal of International Society of Microbiota, Open Issue (2016). doi: http://dx.doi.org/10.18143/JISM_v1i1.782.
  3. Bäckhed, F. et al. Mechanisms underlying the resistance to diet-induced obesity in germ-free mice. Proc Natl Acad Sci U S A. 2007 Jan 16;104(3):979-84. doi: 10.1073/pnas.0605374104.
  4. Ley, R.E. et al. Obesity alters gut microbial ecology. Proc Natl Acad Sci U S A. 2005 Aug 2;102(31):11070-5. doi: 10.1073/pnas.0504978102.
  5. Schwiertz, A. et al. Microbiota and SCFA in lean and overweight healthy subjects. Obesity (Silver Spring). 2010 Jan;18(1):190-5. doi: 10.1038/oby.2009.167.
  6. Unger, M.M. et al. Short chain fatty acids and gut microbiota differ between patients with Parkinson's disease and age-matched controls. Parkinsonism Relat Disord. 2016 Nov;32:66-72. doi: 10.1016/j.parkreldis.2016.08.019.

Weitere Informationen

Newsletter

zum Fach-Newsletter anmelden

Neu: KyberMetabolic

Metabolische Entgleisungen auf Mikrobiom-Ebene aufspüren und gezielt gegensteuern.

Fachtagung Mikrobiom-
Diagnostik

mehr über unsere Fachtagungen erfahren