INFO

Darm-Hirn-Achse: Der Darm im Fokus neurodegenerativer Erkrankungen

Ein Vortrag von Dipl.-Chem. Malena dos Santos Guilherme

Lesedauer: ca. 06:30 min

„Die Ursachen für die Alzheimer-Demenz sind trotz intensiver Forschung nach wie vor nicht vollständig aufgeklärt“, betonte Dipl.-Chem. Malena dos Santos Guilherme auf der diesjährigen Fachtagung des Instituts für Mikroökologie in Frankfurt. Dos Santos Guilherme ist seit diesem Jahr am Institut für Mikroökologie tätig. Im Rahmen ihrer Doktorarbeit an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universitätsmedizin Mainz erforschte sie, welche Rolle die Mikrobiota-Darm-Hirn-Achse bei der Pathogenese der Alzheimer-Demenz spielt. Vorangegangene Studien, an denen auch das Institut für Mikroökologie beteiligt war, hatten bereits die Bedeutung der Mikrobiota-Darm-Hirn-Achse für die Pathogenese von Morbus Parkinson gezeigt.

Dos Santos Guilherme ging in ihrer Forschungsarbeit folgenden Fragen nach:

  • Hat Amyloid-beta, das Hauptmerkmal der Alzheimer-Demenz, einen Einfluss auf die Darmbakterien?
  • Verändert sich die Pathogenese der Alzheimer-Demenz, wenn das Mikrobiom über Antibiotika oder einen fäkalen Mikrobiom-Transfer modifiziert wird?
  • Wie wirkt sich die Alzheimer-Demenz auf die Physiologie des Darms aus?

Zahl der Demenz-Erkrankten steigt drastisch – kurative Therapien fehlen

Wie sehr diese und ähnliche Fragen drängen, verdeutlichte dos Santos Guilherme mit Hilfe einschlägiger Zahlen: „Im Jahr 2018 hatten wir 50 Millionen Menschen, die an Demenz erkrankten und diese Zahl wird sich Schätzungen zufolge bis ins Jahr 2050 verdreifachen.“ In Deutschland litten im Jahr 2021 laut dos Santos Guilherme 1,6 Millionen Menschen an Demenz. Kurative Therapien gibt es bislang nicht und der Kostenaufwand der derzeitigen Behandlungsoptionen ist enorm.

Unter den neurodegenerativen Erkrankungen ist die Alzheimer-Demenz am häufigsten. Sie tritt in zwei verschiedenen Formen auf: Die familiäre Form macht nur etwa ein Prozent der Fälle aus und geht auf genetische Mutationen zurück; im Durchschnitt erkranken die Betroffenen mit 56 Jahren (Early Onset). Die meisten Alzheimer-Demenzerkrankungen sind allerdings von der sporadischen Form, bei der genetische Risikofaktoren, Lifestyle-Faktoren und die physische und mentale Aktivität eine Rolle spielen. Durchschnittlich manifestiert sich die Erkrankung mit 74 Jahren (Late Onset), aber bereits ab 65 Jahren steigt das Risiko drastisch an.


Amyloide Ablagerungen im Gehirn

Ein grundlegender Mechanismus der Alzheimer-Pathogenese steht laut dos Santos Guilherme relativ sicher fest: Der Stoffwechsel bildet vermehrt das Protein Amyloid-beta, das aggregiert und sich im Gehirn der Alzheimerpatientinnen und -patienten ablagert – mit gravierenden Folgen für deren kognitive Fähigkeiten. Ob eine Person an Alzheimer erkrankt, entscheidet sich am Amyloid-Vorläufer-Protein: Der Stoffwechsel gesunder Menschen setzt das Protein in erster Linie in einen neuroprotektiven Stoff um. Bei Alzheimer-Betroffenen entsteht dagegen vermehrt das aggregierende Amyloid-beta.  

Dos Santos Guilherme und ihre Kolleginnen und Kollegen konnten Amyloid-beta auch im Darm von Alzheimer-Demenz-Modellmäusen nachweisen1, die typischen Amyloid-beta-Ablagerungen befinden sich demnach nicht nur im Gehirn. „Natürlich sprechen wir hier von einem Modell-Organismus, das heißt, die Ergebnisse dienen als erste Hinweise, sind aber natürlich nicht eins zu eins in den Menschen übertragbar“, wies dos Santos Guilherme auf die Einschränkungen bei Mausmodellen hin. Allerdings können manche Fragestellungen aus ethischen Gründen nicht direkt am Menschen untersucht werden und Mausmodelle beschleunigen die Forschung enorm: Die Demenz entwickelt sich bei Mäusen innerhalb von Wochen. „Das Modell, das wir verwendet haben, ist ein relativ aggressives Modell. Das heißt, ab acht Wochen können pathologische Veränderungen im Hirn gefunden werden“, so dos Santos Guilherme. Bei 21 Wochen alten Mäusen liegt bereits ein mittleres und bei 40 Wochen ein sehr schweres Stadium der Alzheimer-Demenz vor.


Amyloid-beta beeinflusst Mikrobiota – und vice versa

In ihren Versuchen nahm dos Santos Guilherme das Zusammenspiel zwischen Amyloid-beta und der Darm-Mikrobiota unter die Lupe. Dafür inkubierte sie die Mikrobiota von Alzheimer-Demenz-Mäusen mit dem Protein, gesunde Mäuse dienten als Kontrolle. Das Ergebnis überraschte die Wissenschaftlerin: Amyloid-beta verringerte die Lebensfähigkeit der Mikrobiota von gesunden Mäusen signifikant. Der Mikrobiota von Alzheimer-Demenz-Mäusen konnte Amyloid-beta dagegen nichts anhaben. Die Mikrobiota hatte sich anscheinend bereits an die Amyloid-beta-Exposition angepasst.2

Ob sich die Zusammensetzung der intestinalen Mikrobiota auch auf die Bildung von Amyloid-beta auswirken kann, überprüfte dos Santos Guilherme, indem sie den Alzheimer-Demenz-Mäusen 14 Wochen lang einen aggressiven Antibiotika-Cocktail verabreichte. Als sie die Mäuse daraufhin untersuchte, fand sie signifikant weniger Amyloid-beta-Ablagerungen im Bereich des Hippocampus der Mäuse. Der für Kognition und Lernen zuständige Hippocampus ist bei der Alzheimer-Demenz besonders stark betroffen.3
Auch das Nestbauverhalten der Mäuse veränderte sich unter der Antibiotika-Behandlung. „Beim Nesting schaut man bei den Mäusen nach dem Daily Living, da Alzheimer-Demenzpatienten bei Aufgaben im täglichen Ablauf wie Uhrablesen und Schuhebinden eingeschränkt sind. Und bei den Mäusen ist der tägliche Ablauf, ein Nest zu bauen“, erläuterte dos Santos Guilherme die Beobachtungen. Die Mäuse, die mit Antibiotika behandelt worden waren, konnten im Ergebnis mehr Material verarbeiten und deutlich bessere Nester bauen.
Bestimmte Bakterien der Darm-Mikrobiota scheinen demnach zur Bildung von Amyloid-beta beizutragen. Zukünftige Forschungsarbeiten müssen aber erst noch aufdecken, um welche Bakterienarten es sich dabei handelt.


Mikrobiom „überträgt“ Veränderungen der Darm-Morphologie

Die Arbeitsgruppe übertrug zusätzlich das Mikrobiom aus gesunden jungen und alten Mäusen über eine Gavage in den Magen der Alzheimer-Modell-Mäuse. Anschließend analysierten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die Mikrobiota-Zusammensetzung – gemeinsam mit Prof. Dr. Andreas Schwiertz vom Institut für Mikroökologie – und überprüften, wie sich die Darm-Morphologie, bestimmte bakterielle Marker im Blut und die Amyloid-beta-Ablagerungen im Gehirn veränderten.

Im Ergebnis ließen sich nicht nur die unterschiedlichen Mikrobiota-Zusammensetzungen der jungen und der alten Mäusen auf die Alzheimer-Demenz-Mäuse übertragen. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler konnten auch Veränderungen in der Darm-Morphologie nachweisen, wenn die Alzheimer-Demenz-Mäuse das Mikrobiom alter Mäuse erhalten hatten: Die Villuslänge, die Darmschleimhaut-Dicke, die Submukosa-Dicke und die Muskelschichtdicke hatten zugenommen.4 Dos Santos Guilherme verwies an dieser Stelle auf den Vortrag von Juniorprof. Dr. Christoph Reinhardt, der ähnliche Forschungsergebnisse vorgestellt hatte. Zusätzlich stieg die Konzentration des LPS-Binding-Proteins im Serum der Alzheimer-Demenz-Mäuse an, die das Mikrobiom alter Mäuse übertragen bekommen hatten. Die Konzentration des Proteins ist umso höher, je mehr bakterielles Lipopolysaccharid (LPS) aus dem Darm ins Blut gelangt. Die Darm-Barriere ist demnach bei den alten Mäusen durchlässiger – eine Eigenschaft, die sich offensichtlich ebenfalls mit dem Mikrobiom übertragen ließ. „Das Mikrobiom von alten Spendertieren führte in den Alzheimer-Demenz-Mäusen auch zu einem Anstieg der Amyloid-beta-Ablagerungen im präfrontalen Kortex und im Dentate gyrus“, betonte dos Santos Guilherme.


Alzheimer beschleunigt Darm-Transit

Dos Santos Guilherme verglich zusätzlich die Darm-Transitzeit von Alzheimer-Demenz-Mäusen mit der gesunder Mäuse und konnte zeigen: Bei den Alzheimer-Demenz-Mäusen war die Darm-Transitzeit verkürzt, die Darm-Motilität also gesteigert.1 Ersten Hinweisen zufolge könnte ein gestörter dopaminerger Stoffwechsel im enterischen Nervensystem dafür verantwortlich sein. Weitere Untersuchungen sind allerdings noch notwendig, um diesen Hinweisen im Detail nachzugehen.

Wie dos Santos Guilherme gemeinsam mit ihren Kolleginnen und Kollegen eindrücklich zeigen konnte, ist die Mikrobiota-Darm-Hirn-Achse an der Pathogenese der Alzheimer-Demenz beteiligt. Für die Parkinson-Demenz, die in der klinischen Ausprägung und den Patho-Mechanismen mit der Alzheimer-Demenz verwandt ist, konnte die Bedeutung der Mikrobiota-Darm-Hirn-Achse bereits in früheren Studien nachgewiesen werden. Vergleichbar zum Amyloid-beta bei der Alzheimer-Demenz bilden sich bei der Parkinson-Demenz Aggregate des Alpha-Synucleins, die sich in den Lewy-Körperchen im Gehirn der Patientinnen und -patienten ablagern. Das alpha-Synuclein kann sogar vom Darm über den Vagus-Nerv ins Gehirn gelangen. „Die Patienten zeigen Symptome wie Rigor, Tremor oder Akinese, aber leiden auch schon viele, viele Jahre vor der klinischen Manifestation der Symptome an gastrointestinalen Störungen“, so dos Santos Guilherme. Im Rahmen ihres Vortrags stellte sie auch Forschungsergebnisse vor, an denen Prof. Dr. Andreas Schwiertz mit dem Institut für Mikroökologie beteiligt war.


Morbus Parkinson: Gestörte Darm-Barriere und veränderte Mikrobiota

Schwiertz hatte mit seinen Kolleginnen und Kollegen Stuhlproben von Parkinson-Demenzpatientinnen und -patienten untersucht und mit gesunden Kontrollen verglichen. Dabei konnte er zeigen: Die Marker für eine gestörte Darm-Barriere – Alpha-1-Antitrypsin und Zonulin – waren bei Parkinson-Erkrankten erhöht, ebenso wie die Werte des Entzündungsmarkers Calprotectin.5
„Calprotectin ist zum Beispiel ganz charakteristisch bei chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen wie Colitis ulcerosa oder Morbus Crohn erhöht. Das heißt, wir haben eindeutige Entzündungsprozesse im Darm vorliegen“, so dos Santos Guilherme. Zudem untersuchte Schwiertz die mikrobielle Zusammensetzung in den Proben und fand auch hier signifikante Unterschiede zwischen Parkinson-Demenzpatientinnen und -patienten und gesunden Kontrollen. Die Zellzahlen von Bacteroidetes und Prevotellaceae waren zum Beispiel erniedrigt und die Zellzahlen der Enterobacteriaceae erhöht. Gleichzeitig hatten die Parkinson-Demenzpatientinnen und -patienten eine geringere Konzentration an kurzzeitigen Fettsäuren im Darm.6 Dos Santos Guilherme verwies an dieser Stelle auf den Vortrag von Prof. Dr. Andreas Schwiertz, der genauer auf die Bedeutung der kurzkettigen Fettsäuren für die Darm-Gesundheit einging.


Resistente Stärke stärkt Darmbarriere

Auf die vielversprechenden Ergebnisse zur Mikrobiota und den kurzkettigen Fettsäuren hin entstand eine Zusammenarbeit mit der Michael-J.-Fox-Foundation, in deren Rahmen eine Interventions-Studie mit resistenter Stärke bei Parkinson-Demenzpatientinnen und -patienten durchgeführt wurde. Das Darmbakterium Faecalibacterium prausnitzii kann aus resistenter Stärke Buttersäure bilden, die einer gestörten Darm-Barriere und inflammatorischen Prozessen im Darm entgegenwirkt. „Und genau das konnte auch gezeigt werden, das heißt die Konzentrationen von Alpha-1-Antitrypsin, Zonulin und auch von Calprotectin haben sich normalisiert“, so dos Santos Guilherme. Den Parkinson-Demenzpatientinnen und -patienten ging es daraufhin insgesamt besser.7

„Zukünftig können wir prä- und probiotische Interventionen als Behandlungsoptionen zurate ziehen“, zeigte dos Santos Guilherme sich zuversichtlich, bei der Behandlung sowohl der Parkinson-Demenz als auch der Alzheimer-Demenz. Allerdings seien dafür noch weitere Studien notwendig.
Dos Santos Guilherme verwies auch auf die diagnostischen Möglichkeiten: „Zum einen können wir die Mikrobiota-Diagnostik nutzen, zum Beispiel die KyberBiom-Diagnostik, und des Weiteren die Darmschleimhaut-Diagnostik, das heißt Fettsäuren, Alpha-1-Antitrypsin, Calprotectin et cetera. Darüber können wir für eine stabile und gesunde Darmbarriere jetzt schon etwas tun.“


Verwandte Diagnostik-Parameter

KyberBiom®

die intelligente Mikrobiom-Diagnostik mit Resilienz-Index, neuen funktionellen Gruppen und FODMAP-Typ

CardioHeparMetabolic

Arteriosklerose, Fettleber und Typ-2-Diabetes:
Darm-assoziierte Risiken erkennen

Abdominalbeschwerden

Die biochemischen Parameter des KyberPlus klären die Ursachen unklarer Abdominalbeschwerden ab.